Spuren jüdischen Lebens im Flughafenkiez

Stolpersteine und ein interaktiver Stadtplan halten die Erinnerung an jüdische Nachbarinnen und Nachbarn wach.

Stolpersteine Karl-Marx-Str. 16-18, Foto: Jens Sethmann

Screenshot von www.mappingthelives.org

Man findet sie auf Schritt und Tritt: in den Gehweg eingelassene, kleine Messingplaketten, die an jüdische Hausbewohner*innen erinnern, die zwischen 1933 und 1945 von den Nazis verfolgt, vertrieben, deportiert und ermordet wurden. Namen und Lebensdaten sind auf den „Stolpersteinen“ eingraviert und rufen so immer wieder in Erinnerung, dass hinter der anonymen Opferzahl Millionen einzelne Menschenschicksale stehen.

Stolpersteine machen Lebensgeschichten sichtbar

Die Stolpersteine werden vom Künstler Gunter Demnig hergestellt und verlegt. Oft sind es Hausgemeinschaften, einzelne Mieter*innen oder Hausverwaltungen, die die Geschichte früherer Bewohner*innen recherchieren und die Stolpersteine in Auftrag geben. Im Flughafenkiez gibt es zur Zeit 25 Stolpersteine an neun Adressen.

Auf der Stolpersteine-Internetseite kann man auch die Lebensgeschichten vieler Nazi-Opfer nachlesen. So lebte zum Beispiel in der Karl-Marx-Straße 16 das Ehepaar Alfred und Elise Cohn, das eine Damenschneiderei betrieb. Aufgrund der diskriminierenden Gesetze mussten sie in ihrer Vier-Zimmer-Wohnung zahlreiche Untermieter aufnehmen. Nachdem Alfred Cohn gestorben war, wurde Elise 1942 nach Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später 67-jährig in Auschwitz ermordet. Ihre letzten Untermieter Gertrud Löwenstein (51) und Rudi Goldschmidt (33) mussten die Wohnung verlassen und wurden wenig später ebenfalls in Auschwitz ermordet.

Einer ihrer früheren Untermieter war Simon Luft, der bis 1936 in der heutigen Karl-Marx-Straße 26 ein kleines Schuhgeschäft hatte. Er wurde 1941 im Alter von 42 Jahren nach Minsk deportiert und dort wahrscheinlich gleich erschossen. Seine beiden Kinder hatte er versucht, in den Niederlanden in Sicherheit zu bringen, doch sie wurden über Westerbork und Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Der neunjährige Wolfgang Luft wurde dort gleich ermordet, seine Schwester Felicitas erlebte noch die Befreiung, starb aber vier Wochen später an den Folgen der Qualen mit 15 Jahren.

Bedrückende Datenauswertung

Die Stolpersteine können nur einen kleinen Ausschnitt abbilden. Hier wie überall in Berlin gab es vor 1933 viel mehr jüdische Nachbar*innen. Als Ergänzung zu den Stolpersteinen hat Roderick Miller aus der Hobrechtstraße mit seinem Verein „Tracing the Past“ (deutsch: Auf den Spuren der Vergangenheit) Archive ausgewertet und die Namen früherer jüdischer Bürger*innen mit ihrer Wohnadresse in eine Landkarte eingetragen. Die Daten kommen vor allem aus der Volkszählung von 1939, bei der man angeben musste, ob ein Großelternteil jüdisch war.

Auf der Internetseite www.mappingthelives.org sind diese Daten auf einem Stadtplan verzeichnet. Jede Adresse, an der ein Verfolgte*r wohnte, ist mit einem Punkt gekennzeichnet. Wenn man diesen anklickt, kann man die Namen der jüdischen Bewohner und deren Angehörigen sowie ihre Lebensdaten aufrufen. Man kann auch direkt nach Namen oder Adressen suchen.

Im Flughafenkiez sind rund 75 Adressen verzeichnet. Hier hatten laut der Volkszählung von 1939 rund 200 Einwohner*innen gewohnt, die damals als „nicht-arisch“ galten. Auch das sind nicht alle, denn zu diesem Zeitpunkt sind die Juden in Deutschland schon weitestgehend rechtlos gemacht worden, so dass viele bereits in den Jahren zuvor das Land verlassen hatten. „Mapping the Lives“ gibt einen beklemmenden Eindruck davon, wie der Holocaust in unseren Straßen begann. Wer sich ehrenamtlich für die Verlegung und Pflege der Stolpersteine engagieren möchte, findet weitere Informationen hier.

Buchtipp:
Dorothea Kolland (Hg.): „Zehn Brüder waren wir gewesen…“ – Spuren jüdischen Lebens in Neukölln, Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2012, 608 Seiten, 335 Abbildungen, 29,90 Euro